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Projektskizze, Karin Krauthausen:

"la volonté de voir"

Zum Verhältnis von Zeichnen und Schreiben bei Paul Valéry

Paul Valérys lebenslang geführte Cahiers (1895-1945) lassen sich als Gegenmodell zu seiner philosophischen Narration Une Soirée avec Monsieur Teste lesen. Die Figur des Monsieur Teste bildet die literarische Inkarnation von Valérys Rationalitätsvorstellungen, indem sie das Programm eines "reinen Denkens" personifiziert, das hier als eine Technologie des Selbst verstanden wird. Obwohl die Cahiers das gleiche Ziel verfolgen, führen sie über einen Zeitraum von 50 Jahren das Scheitern dieses Rationalitätsprojektes vor - die Kontrolle des Materials durch den Geist, die Kontrolle des Körpers und des Selbst durch den Geist erscheint auch Valéry selbst zunehmend unmöglich. Doch dieses Scheitern lässt sich auch positiv formulieren: Valéry setzt in der Praxis der Cahiers sein eigenes Denken zu einem reinen Denken täglich neu in Beziehung, und gerade darin kommt dieses prekäre und widersprüchliche eigene Denken zu seinem Recht. Dies hat aber maßgeblich mit der Form der Cahiers zu tun, mit ihrem Gegeneinander von Schrift und Zeichnung sowie mit der nicht-hierarchischen, nicht-finalen und ornamentalen Anlage. Valérys Beobachtungen der "Maschine des Sehens" und der Medien des Sichtbaren speisen das Aufzeichnungssystem der Cahiers inhaltlich und formal: Das Zeichnen wird in den Cahiers zum verlässlichen Unterbrecher und gewissermaßen zum Anderen der Schrift. Die Notizbücher Valérys buchstabieren über das Gegen-, Mit- und Ineinander von Zeichnen und Schreiben konsequent eine Zone der Unbestimmtheit aus, die die Voraussetzung und den Rahmen bildet für seine Selbstbeobachtungen in Echtzeit, seine Auseinandersetzungen mit den Wissenschaften sowie seine ästhetischen Überlegungen. Im Wechsel zwischen den Praktiken des Zeichnens und Schreibens entsteht ein originärer Denkraum, und zwar in Anziehung und Abstoßung zu den um 1900 herrschenden Wissensstandards und Wissensformen. Diese Valérysche Parallelwelt des Wissens und der Wissenserstellung gilt es über das hier sichtbar werdende, auffällige Verhältnis von Zeichnen und Schreiben zu beschreiben.